Fast verloren: Das Winkelried an der Landstrasse in Wettingen.

Weisst du noch, im Winkelried?

Das Winkelried gilt in Wettingen als Kultbeiz. In absehbarer Zeit verschwindet es. Ein Blick in die Vergangenheit und ein Resümee des Jetzt.

Robin Adrien Schwarz

--

Die Fassade des legendären Spuntens ist schmutzig-grün, die Lettern, die an ihr prangen, vergilben. Draussen ein kleines Schaufenster, das eine mit Blumen und Schmetterlingen verzierte Menükarte zeigt. Hier gibt es Währschaftes. Rösti mit Spiegeleiern. Wurstsalat. Paniertes Schweinsschnitzel.

Der Platz im Glaskasten neben den Menükarten ist fast gänzlich leer. Ein anderes, schmuckloses Blatt Papier informiert über die verschiedenen Röstivariationen. Daneben ein angelaufenes Schild «Liederkranz Wettingen». Darunter: Nichts.

Der leere Glaskasten zeigt: Im Winkelried geschieht heute nicht mehr viel.

Wer das Winkelried betritt, wird sofort mit dem typischen Beizengeruch konfrontiert. Gewaschene Tischtücher, der Zigarettenrauch der letzten Dekaden in den Tapeten, ein bisschen Bier, ein bisschen Küche. Das Interieur ist aus der Zeit gefallen, aber zu sagen, die Zeit sei im Winkelried stehen geblieben, wäre falsch, im Gegenteil. Nichts ist so spürbar im Winkelried wie das Vergehen der Zeit.

Am Nachmittag um 16 Uhr ist das Winkelried fast leer. Nur ein paar wenige treue, tapfere Stammgäste sitzen an ihren Tischen. An den Wänden hängen Bilder, die an alte Tage erinnern. Ein Kupferstich von Carl Arnold Gonzenbach, der Winkelried in Sempach zeigt. Ein Panorama von Wettingen anno 1902, damals ein Dorf mit kaum mehr als 3000 Einwohnern.

Auf den Fluren wandeln die Geister

Im Stübli sitzt niemand, Stühle sind zusammengestellt, als wäre hier eine Vorstellung zu Ende gegangen, als wäre nicht Nachmittag, sondern Nacht. Düster genug wäre es dafür. Und würde aus dem Schankraum nicht leise schweizerische Volksmusik durch die leeren Gänge schallen, könnte man sich fast vorstellen, wie hier Tom Waits ein Konzert beendet, während «Closing Time» läuft.

Im Saal, der sogar eine Theaterbühne beherbergt, stehen lange Tische ohne Kundschaft. Schon lange sei das so, erklärt Wirt Josef Willi-Müller. «Viele der Kunden sind inzwischen gestorben», erzählt seine Frau und Wirtin Johanna. «An diesem Tisch sassen die Österreicher mit etwa 15 Leuten», sagt sie, «ganz oft waren sie hier.»

Wie gross das Winkelried ist mit seinem Schankraum, Stübli, mit seinem Saal und sogar zwei Kegelbahnen, eine davon kaputt, ist kaum zu erahnen. Dass es überhaupt geöffnet hat, ebenfalls. Früher hat man hier die Mittelaargauer Kegelmeisterschaften ausgetragen. Und verschiedenste Vereine hatten hier gefestet und getrunken, zum Beispiel der Wettinger Liederkranz. In mehreren Glasvitrinen stehen noch Pokale, Medaillen und Bilder von früher, von Menschen, die inzwischen vielleicht gestorben sind, von Vereinen und Clubs, die es nicht mehr gibt, sodass man meinen könnte, mit jedem Knarzen des Holzbodens und mit jedem Glänzen einer Medaille würden Geister sprechen.

Ja, früher. Früher war hier viel los, erzählt Josef Willi-Müller, und die schiere Grösse des «Winkelrieds» und all die Memorabilien bezeugen das. Sogar Hotelzimmer hat der Spunten. 42 Jahre haben er und seine Frau das Winkelried geführt. Doch damit ist in absehbarer Zeit Schluss. Das Winkelried wurde verkauft, wann die neuen Eigentümer gedenken, das Haus abzureissen, ist nicht bekannt. Die Gefühle, die die beiden gegenüber dem Ende der Winkelried-Ära haben, sind komplex. «Ein lachendes und ein weinendes Auge», sagt der Wirt.

Josef und Johanna Willi-Müller führen das Winkelried seit 42 Jahren.

Lachend, weil man nun frei sei, ein weinendes, weil das Winkelried ihr Lebensinhalt war für lange Zeit und einem Veränderung nie leichtfällt. Johanna Willi-Müller sagt, die Stammgäste seien über die Zeit zu Freunden geworden. Warum eigentlich in den Ruhestand treten und zuhause im Wohnzimmer sitzen, wenn man zusammen mit Freunden in der Beiz sitzen kann?

Doch das Winkelried läuft nicht mehr. «Die Coronakrise hat uns den letzten Stoss versetzt», sagt er. Aber schon zuvor sei es schwierig gewesen. Wie noch eine Beiz betreiben, wenn doch die Jungen nicht mehr in die Beiz gehen und die Alten langsam verschwinden? Wenn er so erzählt, wirkt er wie ein Cowboy, der den Untergang des Wilden Westens betrauert. «Die Jungen essen heute nicht mehr, was wir hier kochen, sie essen Pizza und Kebab.» Der Zahn der Zeit nagt nicht nur am Schweinssteak. Man habe hier oft einen Jass geklopft, aber auch das interessiere heute ja niemanden mehr.

«Die Jungen essen heute nicht mehr, was wir hier kochen, sie essen Pizza und Kebab.»

Heute habe man Handys, man müsse nicht mehr am Abend zusammen im Spunten sitzen. Und wenn, dann gingen die Jungen heute oft mit Bier aus dem Denner oder Coop auf die Gasse. «Das wäre früher keinem in den Sinn gekommen», sagt Josef Willi-Müller. Auch Goldlotto habe man hier früher gespielt, dafür seien Leute sogar aus Zürich oder Bern angereist.

Leben und Sterben im Winkelried

Eine Kultbeiz war es, das Winkelried. Wenn es um die Gegenwart geht, wird das Gespräch melancholisch, wenn es um die Vergangenheit geht, nostalgisch.

Verrückte Dinge seien hier passiert. «Einmal haben die einen angeschossen», erzählt der Wirt. Ein Auto sei vorbeigefahren und jemand habe auf einen Gast, der sich gerade draussen aufhielt, geschossen und ihn in den Fuss getroffen. Ein Streit zwischen Serben, Kroaten und Kosovo-Albanern sei das wohl gewesen, erinnert er sich und lacht. «Das Kügelchen hatte aus dem Fuss rausgeguckt, also haben wir den Ausbeiner genommen, ihm die Kugel herausgeschnitten und ihm gesagt, los ab ins Spital!» Vom Herausschneiden zum Schnitter: «Früher hatten wir Senioren bei uns am 24. Dezember. Einmal brachten sie ein Mütterchen nach vorne, und ich dachte noch, die hat es doch schon geputzt. Sie setzten sie auf einen Stuhl und ich fragte: ‹Was macht ihr eigentlich hier? Die ist doch schon tot!›» — «War sie wirklich tot?»

Sie setzten sie auf einen Stuhl und ich fragte: ‹Was macht ihr eigentlich hier? Die ist doch schon tot!›»

«Natürlich! Sogar das Wasser hatte sie noch gelassen! Dann haben wir das Mütterchen hier zur Ecke gebracht, den Teppich darüber und ein paar Stühle ringsum, damit niemand drüberstolpert!». Willi-Müller muss eine Pause machen und gluckst. Das sei gar nicht so einfach gewesen, schliesslich «muss man am 24. Dezember auch zuerst noch jemanden finden, der sie einsargt!»

Geschichten der Vergänglichkeit für eine Zukunft, in der das Winkelried bald Vergangenheit sein wird. Und zum Ende hört man Tom Waits beinahe singen: «And a solitary sailor who spends the facts of his life like small change on strangers…».

Schauspiel übers Winkelried

Der Verein «Theater Winkelritt» will dem Winkelried einen würdigen Abschied spendieren. Zusammen mit dem Autor Jens Nielsen und der Regisseurin Martha Zürcher soll ein hochkarätiges Schauspiel über eine fiktionalisierte Historie des «Winkelrieds» entstehen. Die Initianten organisieren ein Crowdfunding. Das Stück wird ab 10. September 12-mal aufgeführt. Mehr auf www.theater-winkelritt.ch.

*Dieser Artikel ist im Regionalanzeiger Limmatwelle erschienen.

--

--

Robin Adrien Schwarz

I like philosophy, literature, journalism and digital stuff. Oh, and music.