Die Ideologie der Pandemieleugner
Wer steckt hinter der Gruppe, die in Wettingen und Aarau gegen die Corona-Massnahmen demonstrieren wollte? Eine Recherche.
Der Wettinger Gemeinderat hat der Anti-Coronamassnahmen-Gruppe «Aktionsbündnis Aargau-Zürich» (ABAZ) keine Bewilligung für eine gross angelegte Demo am 8. Mai erteilt. Ein Entscheid, der auch im Einwohnerrat breite Unterstützung fand. Den Veranstaltern jedoch passte das Demo-Verbot nicht. Sie hatten deshalb eine Neubeurteilung des Entscheides durch die nächsthöhere Instanz verlangt. Aber auch der Regierungsrat wies die Beschwerde ab. Das ABAZ gibt trotzdem nicht auf. Man will den Fall vor Verwaltungsgericht oder nötigenfalls gar vor Bundesgericht anfechten.
Da aber zum Beispiel in Rapperswil — trotz fehlender Bewilligung und offizieller Absage — eine Grossdemonstration stattfand, stellt sich die Frage, ob nicht auch Tausende Menschen nach Wettingen pilgern werden — und was das für Menschen sind.
Organisiert über Kanäle in der Chat-App Telegram
Im Fall Rapperswil hatten sich die Demonstrierenden über eine dezentrale Gruppenchatstruktur in der App Telegram organisiert. Dazu gehören zwei Gruppenchats, spezifisch für den jeweiligen Demo-Tag.
An dieser dezentralen Struktur beteiligt sind rund 80 Kanäle mit einer jeweiligen Grösse von ein paar Dutzend bis zu ein paar Tausend Teilnehmern, die sich — nach dem Namen eines der grössten Kanäle — «Corona-Rebellen» nennen. Es ist eine diffuse, heterogene Mischung aus tatsächlichen Vereinen und losen Einzelgruppen. Da gibt es eine Gruppe von Pflegearbeitenden, aber auch eine rechtsextremistische Gruppe namens «Reconquista». Und: auch die Kanäle des «Aktionsbündnisses Aargau-Zürich» oder jener der «Freunde der Verfassung» — Ersteres steht hinter der abgesagten Demo in Wettingen.
Markus Häni, Ex-Kantonsschullehrer aus Baden, Sprecher des ABAZ und
«Wir wollen nicht zentral angreifbar sein, wie es zum Beispiel den deutschen Querdenkern passiert ist — sie stehen jetzt unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz.»
Vorstandsmitglied der «Freunde der Verfassung», erklärt, weshalb man das trotz zum Teil grossen personellen Überschneidungen so kompliziert macht: «Wir wollen nicht zentral angreifbar sein, wie es zum Beispiel den deutschen Querdenkern passiert ist — sie stehen jetzt unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz.» Würde die Gruppe dann abgestellt, könne damit die ganze Bewegung sterben, räsoniert Häni.
Die Kundgebung in Wettingen habe man dazu nutzen wollen, «alle existierenden Organisationen zusammen auf den Platz zu bringen». Damit hätte auch die Chance bestanden, dass die Medien mit ihnen in den Dialog treten können, sagt Häni. Der kommunikationsbereite Ton Hänis divergiert signifikant von der Sprache auf den offiziellen Kanälen der Gruppe und noch stärker von jener der Demo-Teilnehmenden, die den Medien bisher alles andere als wohlgesonnen waren. Beschimpfungen sind dort an der Tagesordnung.
Gab sich das Aktionsbündnis öffentlich im Bezug auf die damals noch hängige Beschwerde sehr kämpferisch, schien Häni im Gespräch mit der Limmatwelle bereits zu resignieren: Man rechnete mit der Absage durch den Regierungsrat. Das ABAZ kommentierte den Entscheid in den sozialen Medien kurz und knapp: «Vom Organisator abgesagt, weil vom Regierungsrat verboten!»
«Wenn Menschen mit Mut und aus Überzeugung trotz Polizeipräsenz auf die Strasse gehen, ist das für mich eine Bestätigung.»
Auf Rückfrage der Limmatwelle drückte Häni seine Enttäuschung aus. Eine Aufforderung an die eigenen Anhänger, zuhause zu bleiben, schliesst Häni aus. «Das ABAZ ist demokratisch und will den Mitgliedern nicht vorschreiben, was sie zu tun haben.»
Häni weiter: «Wenn Menschen mit Mut und aus Überzeugung trotz Polizeipräsenz auf die Strasse gehen, ist das für mich eine Bestätigung.» Trotzdem sagt Häni, das ABAZ würde keine illegale Kundgebungen unterstützen. Dennoch begrüsste man nach der ebenfalls unbewilligten Demo in Altdorf, dass so viele Menschen trotz Verbot aufgekreuzt seien.
Hinter den Corona-Demonstrationen steht eine Ideologie
Die Gruppe, die mit bis zu 8000 Menschen in Wettingen oder Aarau aufmarschieren wollte, ist nur schwer fassbar. Klar ist nur: Sie will die Corona-Massnahmen abschaffen. Die Räson hinter den Forderungen bleibt oft vage, unspezifisch und in manchen Fällen schwer nachvollziehbar. Und manchmal schlichtweg falsch.
Vordergründig geht es oft um dieselben Themen: die Angst, Masken seien nicht nur epidemiologisch sinnlos, sondern gar schädlich — sozial, medizinisch und psychisch –, und insbesondere Kinder müsse man davor schützen. «Wenn wir Kindern, die epidemiologisch praktisch keine Rolle spielen und nachweislich leiden, trotzdem eine Maske anziehen müssen, ist für mich die rote Linie überschritten», erklärt Markus Häni. Oder um die Angst einer Zweiklassengesellschaft durch juristischen oder sozialen Druck, sich impfen zu müssen. Häni spricht dabei von «unveräusserlichen Menschenrechten», die gefährdet seien. Gegenüber dem SRF sagte Häni, es gebe in der Schweiz keine Meinungsfreiheit und keine Garantie auf körperliche Unversehrtheit mehr.
«Wenn wir Kindern, die epidemiologisch praktisch keine Rolle spielen und nachweislich leiden, trotzdem eine Maske anziehen müssen, ist für mich die rote Linie überschritten»
Die Covid-Massnahmen sind, geht es nach Häni, kein kleineres Übel, kein unangenehmes Muss-halt, sondern unverhältnismässig, gar eine Zäsur. Dabei ignoriert Häni die Existenz der überwältigenden wissenschaftlichen Beweislast zugunsten der Hygienemasken und der Impfung.
So etwas wie einen akademischen Konsens gebe es nie, «auch beim Thema Klimawandel nicht», sagt der ABAZ-Sprecher.
Häni zitiert viele Studien und Zahlen, manchmal mehr, manchmal weniger direkt. Gelegen kommen ihm aber primär jene wenigen Ausreisser, die seine Ansichten vermeintlich unterstützen. So spricht er zum Beispiel von einer Studie der Stanford University, die die fehlende Effektivität und Schädlichkeit von Hygienemasken beweisen soll. Nur: Häni ist dabei einem Social-Media-Hoax aufgesessen. Die von Häni zitierte Studie kommt weder aus Stanford noch beweist sie die Schädlichkeit oder Ineffektivität von Gesichtsmasken. Und es handelt sich dabei nicht einmal um eine tatsächliche Studie, sondern um ein rein spekulatives Papier.
In ähnlicher Weise publizierte das renommierte «New England Journal of Medicine» kürzlich eine Studie, die auch von SVP-Nationalrat und «Weltwoche»-Verleger Roger Köppel fälschlicherweise als Beweis für die Nutzlosigkeit der Hygienemaske rekontextualisiert wurde — obwohl die Studienautoren betonten, dass Masken nicht ineffektiv seien, sondern noch zu wenig flächendeckend genutzt würden.
Für Häni ist das nur ein Proforma-Hinweis, denn er sieht im Peer-Review-Prozess — dem wichtigsten Qualitätssicherungsinstrument wissenschaftlicher Journale — eine zensierende Kontrollinstanz, die unliebsame Stimmen eliminieren soll, die sich nicht zur «offiziellen Corona-Doktrin» bekennen wollen.
Die Wahrnehmung als Verschwörungstheoretiker gefällt ihnen nicht
Häni und sein Aktionsbündnis wehren sich nicht nur gegen Hygienemasken und die Impfung. Ein besonderer Dorn im Auge des ABAZ ist die öffentliche Wahrnehmung der Massnahmenkritiker als Verschwörungstheoretiker. «Das ist ein reiner Kampfbegriff», wertet Häni.
«Verschwörungstheoretiker ist ein reiner Kampfbegriff»
Und doch wagt sich Häni immer wieder auf das schwierige Terrain der Spekulation, die entweder unfundiert ist oder viel insinuiert, aber nichts beantwortet. Ein Artikel in «Die Ostschweiz» wirft dem Bundesrat beispielsweise vor, die Wirtschaft zerstören und die Bevölkerung einsperren zu wollen, um sie zur Impfung zu zwingen. Eine Ansicht, die Häni teilt. Als Antwort auf die Frage, wieso der Bundesrat derart grossen Schaden in Kauf nehmen würde, wenn doch eine Impfung — so die Ansicht des ABAZ — ineffektiv und dazu noch gefährlich ist, fragt Häni zurück: «Fragen Sie, wohin das Geld fliesst.» Ob der konkrete Vorwurf also sei, der Bundesrat veranstalte die Impfkampagne nur, damit die Pharmabranche daran verdient, beantwortet Häni nur indirekt. Genau so würde er das nicht sagen wollen, aber «es gibt Profiteure». Wer diese Profiteure genau sind, kann der ABAZ-Sprecher aber nicht sagen.
Um angebliche Profiteure geht es auch in einem Bericht auf der Website des ABAZ, wo davon die Rede ist, die Corona-Pandemie sei keine wirkliche Pandemie, sondern nur medial und politisch inszeniert. Als Beweis dafür dient dem ABAZ — und einigen Corona-Leugnern im Netz — die Definition der verschiedenen Pandemiephasen vonseiten der Weltgesundheitsorganisation WHO. Diese Definition sei das letzte Mal 2009 angepasst worden. Wäre das nicht geschehen, hätte man die Pandemie längst für beendet erklärt, so der Vorwurf. Nur: Auch das stimmt nicht ganz. Bei der vermeintlichen Definition handelte es sich nie um die formalen Kriterien für das Ausrufen einer Pandemie. Die angepasste Formulierung fand sich in einem anderen Dokument, das keinerlei Einfluss auf die formale Definition einer Pandemie hat. Auch nach Konfrontation mit dieser Tatsache hält Häni an seiner Darstellung fest, seine These aber bleibt diffus: Die WHO und andere Organisationen seien mächtig und hätten in irgendeiner Weise die Finger im Spiel. Wie und wieso, bleibt unklar.
Von der Pandemie zur Finanzkrise und zum «Great Reset»
Das Gespräch kippt innert weniger Minuten von der Pandemie zur Minuszinspolitik, zur Finanzkrise 2008, zum von WEF-Chef Klaus Schwab postulierten «Great Reset». Ob die Pandemie den mächtigen Zentralbanken gelegen gekommen sei oder ob die ganze Pandemie tatsächlich Absicht oder nur inszeniert sei, darauf kann sich Markus Häni nicht festlegen, er hält beides für möglich. Aber: Es geht für Häni eben nicht nur um die Pandemie, sondern um die grossen Zusammenhänge. Der Clou: Vieles von dem, was Häni sagt, hat direkte Wurzeln in der Realität. Aber genauso vieles ist aus dem Zusammenhang gerissen und in neue problematische Kontexte eingebettet, sodass die Ansichten des ABAZ, ob gewollt oder nicht, oft für klassische Verschwörungserzählungen verwendet werden.
Der von Häni angesprochene «Great Reset» wurde zum Beispiel von Menschen, die dem Theoriesammelbecken zu einer angeblich geplanten «neuen Weltordnung» anhängen, dankend angenommen, wie in den Telegram-Kanälen zu lesen ist. Gerade Zentralbanken und ihre Chefs gehören zu den Hauptakteuren in den antisemitischen Versionen derselben Verschwörungserzählung.
Weiterhin kritisiert Häni — und auch die ABAZ-Website — den Milliardär und Microsoft-Gründer Bill Gates, der seit Beginn der ersten Verschwörungstheorien zum Coronavirus in deren Fokus steht. Grund: Bill Gates investiert viel Geld in Impfforschung.
Eine Theorie, die in den Chatkanälen der Corona-Rebellen kursiert, ist beispielsweise, dass die Impfung eine mörderische Massnahme gegen die das Problem der Überbevölkerung sei. Häni hütet sich zwar davor, einer solchen Theorie seinen direkten Zuspruch zu geben, bemerkt aber trotzdem, es sei schliesslich zu Todesfällen nach Impfungen gekommen und er verstehe den Schritt hin zu dieser Verschwörungstheorie, schliesslich betone Bill Gates immer wieder das Problem der Überbevölkerung. Kritik an seiner Person sei noch keine Verschwörungstheorie.
Dafür, dass es angesichts der schieren Überschneidung an Ansichten zwischen Coronamassnahmen-Kritikern und Verschwörungstheoretikern sowie der sehr vage formulierten Positionen und Aussagen des ABAZ schwierig wird, nicht über Verschwörungstheorien zu sprechen, hat Markus Häni kein Verständnis. Diese Diskussion diene nur dem Framing, das wiederum dazu da sei Massnahmenkritiker zu diffamieren.
Das ABAZ sieht sich nicht in der Verantwortung
Dass Häni und das ABAZ auch selbst verschuldet zu diesem Image gelangt sein könnten, lehnt er ab. Tatsache ist aber: Offiziell nimmt das ABAZ keine Stellung zu Verschwörungstheorien, verlinkt aber auf der eigenen Website weiter auf Blogs, die wiederum auf Verschwörungstheorien verweisen.
«Dass manche Seiten problematische Inhalte verbreiten, ist klar, aber manche Artikel sind auch gut.»
Von der Massnahmenkritik zur wilden Verschwörungstheorie sind es nur wenige Klicks. Häni relativiert: «Dass manche Seiten problematische Inhalte verbreiten, ist klar, aber manche Artikel sind auch gut. Wir haben für die verschiedenen Verlinkungen schon viel Lob erhalten, weil es viel zu entdecken gibt.» Häni weiter: «Schliesslich geht es auch darum, dass sich die Menschen auf der Website durch Vielfalt eine eigene Meinung bilden können. Wir wollen eine attraktive Seite mit vielen Inhalten.»
Das ABAZ und Häni möchten sich indes nicht von Verschwörungstheoretikern distanzieren. Würde man sich von irgendjemandem distanzieren, würden sofort Forderungen laut werden, wonach man sich noch von diversen anderen Gruppen distanzieren müsse. Man distanziere sich ja auch von der Antifa oder Black Lives Matter nicht explizit, obwohl man von beiden Gruppen «keine einzige Person» bei sich haben möchte.
Für Häni reicht die Charta auf der Website, deren Werten man zustimme oder eben nicht. Dafür, was die eigenen Mitglieder tun, habe man kein Kontrollinstrument und was in den Telegram-Gruppen geschehe, liege nicht in ihrer Verantwortung. Dass das Aktionsbündnis seine Einordnungspflicht versäume oder bewusst Bezüge zu Verschwörungstheorien schaffe, für die eigene Anhängerschaft empfänglich sei — damit mitverantwortlich für den eigenen Ruf sein könnte –, lehnt Häni ebenfalls ab. Häni sieht sich dabei auch nicht in der weiteren Verantwortung, Verschwörungstheoretikern Paroli zu bieten oder zu verhindern, dass sie sich beim ABAZ Nährstoff holen.
Sektenartige Züge bei Corona-Gegnern feststellbar
Die Methoden und Ideologie der Massnahmengegner beurteilt etwa der Sektenexperte Hugo Stamm auf dem Onlineportal Watson als Verhalten, das man auch von extremen religiösen und sektiererischen Gruppierungen kennt. Es würde mit Antworten — und in manchen Fällen gar Heilversprechen — geworben, die einer rationalen Prüfung nicht standhalten könnten. Neben vermeintlichen Antworten gibt es in Sekten und extremen politischen Gruppen einen weiteren wichtigen Aspekt: Zugehörigkeit und Abgrenzung von einer als nicht ideal empfundenen Umwelt. Auch das leistet das ABAZ. So erzählt Häni, man organisiere beispielsweise Spaziergänge mit Menschen, die unter den Covid-Massnahmen leiden, und erfülle so auch soziale Funktionen — etwas, was offizielle Behörden versäumen.
Auch für die Zeit nach Corona hat Häni schon Ideen. Im Gegensatz zum «Aktionsbündnis der Urkantone» etwa wolle man auch nach dem Ende der Massnahmen weiter aktiv sein. «Wir wollen den Menschen über die Krise hinaus eine Perspektive geben», erzählt Häni. Eine Perspektive betreffe zum Beispiel die Schule. Häni, der seinen Job als Kantonsschullehrer in Wohlen wegen seines Engagements gegen die Corona-Massnahmen verloren hat, erklärt: «Es gibt so viele Lehrpersonen, die in derselben Position sind wie ich. Sie denken, dass sie in diesem Schulsystem keinen Platz mehr finden, weil sie mit den Massnahmen nicht einverstanden sind.»
Aktuell seien mehrere Bildungsprojekte in Planung, die ausserhalb des Systems funktionieren sollen. «Wir sprechen dabei nicht nur von Privatschulen, sondern von ganz neuen Schulkonzepten.» Damit spricht Häni gesellschaftliche Entwicklungen an, die gerade in der Anti-Corona-Szene stark ausgeprägt sind: «Viele Menschen sehnen sich nach einer neuen Lebensvision. Das wirkt vielleicht träumerisch, aber es gibt viele Leute, die sagen, sie wollen nicht mehr zurück an staatliche Schulen. In diesen Projekten gehe es um neue Gesellschaftsideen und neue Auffassungen des Gesundheitskonzepts.
Nach der ebenfalls nicht bewilligten Demo in Lugano ergab sich kurz vor Redaktionsschluss, dass sich die Demonstrationswilligen nicht auf Wettingen, sondern primär auf Aarau konzentrieren wollen; aber auch die Aarauer Demo ist von den Behörden untersagt worden.
*Dieser Artikel ist ursprünglich im Regionalanzeiger Limmatwelle erschienen.